"Ich habe geschossen, weil ich Jude bin."
von Louis Weingarten
Günter Grass spricht in seiner Novelle über etwas, was viele Jahre ein Tabuthema war. Sein Buch "Im Krebsgang" greift das größte Schifffahrtsunglück auf und erzählt auf moderne Weise die Geschichte dahinter...und nein es ist nicht die Titanic.
Wer sich jetzt fragt, warum das Buch “Im Krebsgang” heißt, wenn es doch um ein Schiffsunglück und um das Dritte Reich geht oder das Titelbild mit dem Inhalt in Einklang bringen möchte, ist genau an dem Punkt, an dem ich mich anfangs auch befand.
Es hat mich sehr viel Zeit gekostet, um zu verstehen, dass es im Titel mehr um den Schreibstil als um den Inhalt geht.
Inhalt des Buches
Günter Grass schreibt über das Leiden der Ostdeutschen Ende des Zweiten Weltkriegs. Er stellt das dar, indem er das ganze damalige Geschehen auf einen Familienkonflikt projiziert. Einigen Günter-Grass-Lesern fällt hier die Mutter der Geschichte ziemlich ins Auge: Tulla Pokriefke. Sie ist eine wichtige Randfigur in zwei Werken der “Danziger Trilogie”, nämlich in “Katz und Maus” und in “Hundejahre”. Grass nimmt Tulla und “reanimiert” sie sozusagen, indem er sie als eine weitere wichtige Person im "Krebsgang” Einfluss auf die Hauptperson Paul, ihren Sohn, nehmen lässt. Es werden auch andere Personen aus der Danziger Trilogie erwähnt und es werden immer wieder Ereignisse aufgegriffen und erzählt.
Das ganze Buch handelt von der Geschichte des Untergangs der “Wilhelm Gustloff”, ein KdF Schiff der Nazis, am 30. Januar 1945 und dessen Namensgeber. Es wurde durch ein Russisches U-Boot versenkt, wobei ca. 9000 Leute ums Leben kamen (zum Vergleich: bei der Titanic waren es ca. 1500 Tote). Die Person Wilhelm Gustloff wurde am 4. Februar 1936 von David Frankfurter in seiner Wohnung in Davos (in der Schweiz) mit vier Kugeln erschossen. Genau dieses Ereignis ist im weitesten Sinne auch der Höhepunkt der Novelle. Der Sohn Pauls, namens Konrad, führt eine Nazi-Seite im Internet unter dem Namen seines Idols Wilhelm Gustloff. Er nennt die Seite “www.blutzeuge.de” und steht in ständigem Konflikt mit einem anderen User, David Frankfurter. Der Konflikt gipfelt darin, dass Wilhelm, aka Konrad, seinen Widersacher David bei einem Treffen mit vier Schüssen tötet und sich mit den Worten “Ich habe geschossen, weil ich Deutscher bin” den Behörden stellt. Diese Worte gab auch David Frankfurter 1936 von sich, nachdem er Wilhelm Gustloff erschossen hatte, nur mit einem kleinen aber wichtigen Unterschied: ”Ich habe Geschossen, weil ich Jude bin.”
Schreibstil
Das ganze Werk ist mit “Chat Slang” beschmückt und springt immer wieder zwischen dem, was im 20. Jahrhundert real geschehen ist, und dem, was Günter Grass als seine “Fiktion” des Ganzen im Buch wiedergibt. Daher kommt auch der Name “Im Krebsgang”. Im gesamten Buch “läuft” der Autor immer wieder auf der Zeitachse nach links in das Vergangene, Reale und nach rechts in die präsente Fiktion des Ganzen. Genauso wie ein “Krebsgang” eben, seitlich nach links und rechts. Ein Beispiel dafür aus dem Buch:
“ >Warum erst jetzt?< sagte jemand, der nicht ich bin. Weil Mutter mir immer wieder… Weil ich wie damals, als der Schrei über dem Wasser lag, schreien wollte, aber nicht konnte...Weil die Wahrheit mehr als drei Zeilen… Weil jetzt erst… Noch haben die Wörter Schwierigkeiten mit mir. Jemand, der keine Ausreden mag, nagelt mich auf meinem Beruf fest.” (S. 7, Zeile 1 ff)
Über das Buch
Das Buch hat nach seiner Veröffentlichung 2002 eine riesige, zeitliche Debatte ausgelöst. Günter Grass wusste das im Vorhinein schon, er hat das Buch aber trotzdem geschrieben und veröffentlicht. Dem Buch kann man auch entnehmen, warum er es getan hat.
Günter Grass ist nämlich selbst im Buch als “Der Alte” vertreten. Er ist der Chef und Auftraggeber von Paul, der ihn dazu bringt das Geschehen aufzuschreiben, genauso wie sein Gewissen Günter Grass selbst dazu gebracht hat das Buch zu schreiben. Er wollte nicht, dass jemand darüber schreibt, der noch später geboren ist als er selbst und der das Ganze nur noch verzerrt wiedergeben kann, denn irgendwann musste jemand anfangen darüber zu schreiben.
Mit einem sehr schönen und auch im Großen und Ganzen wahren Zitat möchte ich diesen Artikel beenden. Man kann über die Richtigkeit dieser Aussage streiten und diskutieren, genauso wie über das Buch, aber genau das wollte Günter Grass auch bewirken, denn wie hat er gesagt: “Das immerhin leistet die Literatur: Sie schaut nicht weg, sie vergisst nicht, sie bricht das Schweigen.”