Sie sind hier:

Foto Staudinger

Am 7.11.2023 traf sich die Schulfamilie in der Aula, um die Biografie von Hermann Staudinger mithilfe eines Themenabends auszuleuchten. Dabei zeichneten die hochkarätigen Referenten kein Schwarz-Weiß-Bild, sondern ließen eine Forscherbiografie vor unseren Augen entstehen, die vor allem von Grautönen geprägt ist.

Am Abend des 7.11. kamen SchülerInnen, Eltern, LehrerInnen und Politiker zusammen, um neu über den Chemiker Hermann Staudinger nachzudenken. Nachdem Staudinger (1881-1965) bis in die jüngste Zeit vor allem als herausragender Forscher wahrgenommen wurde, der den Weg ins Kunststoffzeitalter bahnte, wird die Forscherbiografie angesichts neuerer Quellenfunde inzwischen auch politisch ausgedeutet. Nachdem Herr Prof. Dr. Stickler (Universität Würzburg) die Rolle der Hochschullehrer im sog. Dritte Reich erläuterte, stellte Herr Prof. Dr. Speck (Universität Freiburg) die Biografie Staudingers vor. Schwer auf dem Andenken Staudingers wiegen dabei die Vorwürfe, sich zwischen 1933 und 1945 antisemitisch geäußert zu haben und an kriegswichtigen Forschungen beteiligt gewesen zu sein. Die Professoren bewerteten Staudingers zu verurteilende Grenzüberschreitungen wie folgt: Einerseits äußerte sich Staudinger antisemitisch, andererseits setzte er sich jedoch auch für sog. „Halbjuden“ in der Wissenschaft ein. Zwar forschte er auch zu kriegswichtigen Themen, jedoch ist seine Bedeutung in der Kriegswissenschaft eher als gering einzuschätzen. Staudinger, der im Ersten Weltkrieg als mutiger Pazifist hervortrat, wurde im Jahr 1933/34 aufgrund seiner Überzeugungen von den Nationalsozialisten unter Druck gesetzt, indem ihm die Entlassung aus dem Hochschuldienst angedroht wurde. Staudinger, so die Professoren, passte sich in den folgenden Jahren an, ohne aber wichtige Positionen, wie zum Beispiel seine Verurteilung des Gaskriegs, zu verraten. Mitschuldig an der Zeit zwischen 1933 und 1945 machte er sich wie Millionen andere jedoch ebenfalls.

In der abschließenden Diskussion, in der sich alle Anwesenden beteiligten konnten, wurde auf die Rolle von Vorbildern in unserer Gesellschaft eingegangen. Während für den Kreisheimatpfleger Erik Erfurth der Nobelpreisträger Staudinger als Namensgeber der Schule eher nicht mehr in Frage kommt, diskutierten die beiden Professoren dies konstruktiver. Dr. Linduschka, der als Journalist für das Main-Echo berichtete, fasste in seinem Artikel vom 9.11.2023, die Stimmung unter den SchülerInnen und Eltern titelgebend für seinen Beitrag zusammen: „Der Schulname bleibt“.

Als Lehrer ist es unsere Überzeugung, dass man Denkmäler nicht unreflektiert hinnehmen sollte, sondern diese kritisch reflektieren muss. In diesem Sinn hat uns Staudinger heute noch viel zu sagen. Anhand seiner Lebensgeschichte stellen sich exemplarisch die Fragen nach der gesellschaftlichen Verantwortung der Naturwissenschaften und der Rolle des Einzelnen für das Ganze. Seit mehreren Jahren setzt sich das HSG nun schon intensiv mit diesem Erbe als didaktischer Aufgabe auseinander. Wir werden diese kritische Pädagogik fortsetzen, wozu uns dieser Themenabend viele Impulse lieferte.
Dr. Benjamin Heidenreich