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Denkmäler sollte man nicht einfach verehren, sondern immer wieder auf den Prüfstand stellen, deshalb zeigt der kritische Umgang mit Ihnen, wer wir sind und wer wir sein wollen.

Am HSG beschäftigen wir uns nun seit vielen Jahren intensiv mit dem Namensgeber Hermann Staudinger (1881-1965) und seiner Rolle während des Nationalsozialismus.

Das Video des W-Seminars Geschichte (2022/2024) gibt Ihnen einen ersten Einblick

 

 

books 7479152 640Weitere Informationen zu Staudinger liefert ein Aufsatz des W-Seminars, der in die Schriftreihe der „Gesellschaft Deutscher Chemiker“ aufgenommen wurde.

In Podiumsdiskussionen (Frühjahr und Herbst 2023) sowie im Unterricht lässt uns Hermann Staudinger keine Ruhe. Wir sehen seine kritikwürdige Vita auch als eine Chance, über die Verantwortung des Einzelnen für die Gesellschaft nachzudenken und unsere Schülerinnen und Schüler im Geist der Demokratie zu erziehen.

 

 

Ein Beitrag der 8. Klasse zur Diskussion Ein Beitrag der 8. Klasse zur Diskussion

Hermann Staudinger Porträt

Braucht das HSG einen neuen Namenspatron?

Hermann Staudinger, der Namensgeber des HSG, war ein organischer Chemiker. 1953 erhielt er für seine Begründung der makromolekularen Chemie den Nobelpreis.
Neuerdings wird das Hermann-Staudinger-Gymnasium in der lokalen Presse dazu aufgefordert, darüber nachzudenken, die Schule wegen Staudingers umstrittenen Verhaltens in der Nazi-Zeit umzubenennen. Oder können wir ihn aufgrund seiner wissenschaftlichen Erfolge und seiner Bedeutung für unsere Region weiterhin als Namenspatron führen?

Bedeutung Staudingers für die Wissenschaft und für unsere Region

Der Nobelpreisträger für Chemie ist nicht nur der Namensgeber des HSG, sondern ist auch noch heute in der Region wichtig. Das Industrie Center Obernburg (ICO), das viele Arbeitsplätze schafft, würde ohne ihn womöglich nicht einmal existieren. Durch die erwirtschafteten Steuern trägt dieser industrielle Standort maßgeblich zum Wohlstand der ganzen Region bei. In der Gründungszeit des HSG in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden viele Arbeitskräfte an den Untermain gelockt – nicht zuletzt deswegen mussten die Gymnasien in Erlenbach und Elsenfeld gegründet werden. Man betrachtete damals Hermann Staudinger als herausragenden Wissenschaftler und Pazifist, der ein gutes Vorbild für die Jugend darstellt.

Die Schattenseiten des Hermann Staudinger

Dennoch müssen wir über eine Namensänderung nachdenken. Eric Erfurth, ein ehemaliger Schüler des HSG (Abijahrgang 1980), konfrontierte uns und die Öffentlichkeit am 23.10.2021 im Main Echo mit neuen Erkenntnissen zu Hermann Staudinger. Seiner Ansicht nach wirft der Lebenslauf des Chemikers nämlich viele Fragen auf:
Seine Nachforschungen haben ergeben, dass Staudinger in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zielstrebig seine makromolekularen Forschungen vorantreiben wollte und dabei in einen wissenschaftlichen Streit mit zwei jüdischen Mitarbeitern geriet. Es liegt am herrschenden antisemitischen Zeitgeist, dass es für Hermann Staudinger unproblematisch war, gegen sie vorzugehen - und er hat diesen persönlichen Vorteil genutzt. Bisher war man der Ansicht, dass er aber keinem Juden und keiner Jüdin persönlich geschadet hat, sondern dies eher ein auf die Wissenschaft bezogener Streit war. Eric Erfurth jedoch hat an einen Namenspatron für ein Gymnasium höhere moralische Ansprüche.

Im Ersten Weltkrieg war Hermann Staudinger bekannt für seine pazifistische Haltung. Zum Beispiel trat er öffentlich ein gegen den Einsatz von Giftgas. Der dem nationalsozialistischen Gedankengut nahe stehende, einflussreiche Philosoph Heidegger forderte 1934 die Entlassung Staudingers und warf ihm „sogar den Verrat von chemischen Fabrikationsverfahren an das Ausland“ vor. Gegen diesen Vorwurf wehrte sich Staudinger, indem er sich opportunistisch verhielt und der Zeit anpasste, um weiterarbeiten zu können und seinen Beamtenstatus nicht zu verlieren. Der Preis dafür war ein undatiertes Entlassungsschreiben, das Staudinger unterschreiben musste und mit dem die Nazis ihn nach Bedarf unter Druck setzen konnten. Offenbar waren sie sich seiner Gefolgschaft nicht sicher - das spricht aus heutiger Sicht eher für den Nobelpreisträger als gegen ihn. So sieht das auch Claus Priesner, ein weiterer Staudinger-Experte. Er ist davon überzeugt, dass Hermann Staudinger kein Antisemit war, sondern in den dreißiger Jahren von den Nazis unterdrückt wurde. Das beweist seiner Ansicht nach besagtes Schreiben, das der Chemiker 1934 blanko unterzeichnen musste. Bedenkenswert ist allerdings andererseits, dass er sich dem Historiker Bernd Martin zufolge einerseits 1942 über zu viele Juden und „Halbjuden“ in seinem Institut beklagte, sich aber auch jüdische und "halbjüdische" Wissenschaftler zugunsten von Staudinger äußerten, weil er sie geschützt habe. Hier schillert die Biografie Staudingers deutlich.

In Kenntnis dieser Gemengelage ist der Historiker Martin der Meinung, dass wir unsere Schule nicht umbenennen sollten, aber eine Infotafel anbringen sollten, die „in vorsichtiger Form auf die Komplexität hinweist."

Auch Vorbilder müssen nicht perfekt sein

Den Nobelpreisträger Staudinger zu ignorieren, indem man seinen Namen aus dem kollektiven Gedächtnis unserer Region löscht, würde bedeuten, dass man damit auch einen Teil der Geschichte löscht, statt sich damit auseinanderzusetzen.
Unser ehemaliger Schulleiter Dr. Trost, der auch Historiker ist, stellt den Fall Staudinger in einen Zusammenhang mit Dalberg und Echter, die beide eine weit fragwürdigere Vergangenheit haben, Echter, weil er die Protestanten bekämpfte und vertrieb, Erzbischof Dalberg, weil er mit Napoleon gemeinsame Sache machte und so Tausende gefallene Soldaten mit auf dem Gewissen hat – ohne dass man sie als Namensgeber hiesiger Gymnasien eliminiert hätte.
In Freiburg hat man sich ebenfalls dagegen entschieden, nach Staudinger benannte Straßen und Schulen umzubenennen. Infotafeln weisen hier darauf hin, dass der Chemiker – wie alle anderen Menschen auch – nicht perfekt war. Vielleicht wird es dadurch für die Schülerinnen und Schüler sogar ein bisschen leichter, den Wissenschaftler als Vorbild zu betrachten.

Das HSG hat sich vorgenommen, das Thema im Rahmen eines W-Seminars aufzugreifen – gemeinsam mit Dr. Heidenreich werden sich die Q11-SchülerInnen mit Karrieren im Nationalsozialismus beschäftigen, auch mit der von Hermann Staudinger. Dieser Artikel entstand bereits im Deutschunterricht der 8c bei Annette Wohlmann, wo es um das Erstellen informierender Texte geht – auch in der Mittelstufe hat das Thema also einen Platz gefunden. Wir hoffen, dass er zur Meinungsbildung der Schulfamilie im Fall Staudinger einen nützlichen Beitrag leistet!

Klasse 8c, Dezember 2021