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Hermann Staudinger

Bei der Namensverleihung und offiziellen Einweihung der Schule im Jahre 1968 trug man der Tatsache Rechnung, dass die in unserem Landkreis beheimatete chemische Industrie durch die Forschung des Universitätsprofessors und Nobelpreisträgers Hermann Staudinger (1881-1965) nachhaltig beeinflusst und vorangebracht wurde. Die Erkenntnisse von Hermann Staudinger auf dem Gebiet der makromolekularen Chemie bildeten die Basis für den Aufschwung der Kunstfaserchemie in der benachbarten Firma „Glanzstoff AG“, die jetzt in ICO umbenannt ist.

Für die Namensgebung der Schule im Jahr 1969 bildete Staudingers Wirken im nationalsozialistischen Wissenschaftssystem der Jahre 1933-1945 noch kein Ausschlusskriterium. Vielmehr wurde Staudinger als streitbarer Forscher wahrgenommen, der im I. Weltkrieg pazifistische Positionen vertrat. Allerdings hat die neuere Forschung dem Profil des Nobelpreisträgers weitere Facetten hinzugefügt. Sie zeigen ihn als opportunistischen Forscher unter der Herrschaft der Nationalsozialisten, der die braune Ideologie aufnahm, wenn sie ihm beruflich zu nutzen schien. Indem sich Staudinger den Nationalsozialisten andiente, beschädigte er aus heutiger Sicht auch sein akademisches Lebenswerk.

Staudingers Biografie lehrt uns, dass berufliches und wissenschaftliches Streben stets an moralische Werte gebunden werden müssen. Der Lebenslauf Staudingers stellt für uns ein Erbe dar, welches wir kritisch annehmen. Seit nunmehr 50 Jahren sehen wir es einerseits als unsere Aufgabe an, Schüler*innen durch zusätzliche Kurse und Projekte so zu fördern und zu unterstützen, dass der Einstieg in ein naturwissenschaftliches Studium bzw. in ein naturwissenschaftliches Berufsfeld erleichtert wird. Andererseits engagiert sich die Schule ebenfalls seit Jahrzehnten darin, den Schüler*innen ein moralisches Urteilsvermögen zu vermitteln, das ihr Handeln an freiheitlich-demokratischen Grundwerten ausrichtet. Hervorragende naturwissenschaftliche Bildung und der Einsatz für eine pluralistische Gesellschaft gehören vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte am HSG zusammen.

Dr. Benjamin Heidenreich (Dezember 2021)